Können Kündigungsgründe im Kündigungsschutzverfahren nachgeschoben werden?
Das BAG beschäftigte sich mit der Kündigungsschutzklage eines Chefarztes einer psychiatrischen Einrichtung. In seinem Arbeitsvertrag wurde vermerkt, dass eine Kündigung nur aus wichtigem Grund zulässig ist. Im Juni 2018 wurde dem Kläger aus wichtigem Grund fristlos gekündigt. Die Kündigung wurde mit einem angeblichen Fehlverhalten des Arztes gegenüber einer Mitarbeiterin aus dem Jahr 2015 begründet. Die Klinikleitung hatte erst im Juni 2018 von dem Vorfall Kenntnis erlangt. Der Arbeitnehmer reichte daraufhin eine Kündigungsschutzklage ein. Im Mai 2018 gab die Klinikleitung ein Gutachten über die Behandlung von Patienten in Auftrag. Nach der Kündigung des Arztes wurde die Klinikleitung durch die Ergebnisse des Gutachtens auf weitere potenzielle Pflichtverletzungen aufmerksam gemacht. Der Chefarzt sollte unter anderem Behandlungen vorsätzlich und fehlerhaft abgerechnet haben. Außerdem wurden ihm Fehlbehandlungen und ein Vertrauensbruch gegenüber dem Familiengericht vorgeworfen. Im Kündigungsschutzverfahren berief sich die Klinik nicht nur auf den ursprünglichen Kündigungsgrund, sondern brachte auch die Ergebnisse des Gutachtens vor. Anschließend wurde die Klage nicht aufgrund des ursprünglichen Kündigungsgrundes, sondern aufgrund der nachträglich vorgebrachten Gründe abgewiesen. Der Kläger legte daraufhin eine Beschwerde ein, um die Zulassung zur Revision durchzusetzen. Er machte geltend, dass sein Arbeitgeber den ursprünglichen Kündigungsgrund nicht habe auswechseln dürfen.
Begründen die vorgebrachten Kündigungsgründe eine fristlose Kündigung?
Der Arzt hatte, obwohl die entsprechenden Voraussetzungen nicht vorlagen, Medikamente verordnet. Außerdem wurde ein Patient in einen sogenannten Time-out Raum gebracht, ohne dass die erforderliche Genehmigung des Familiengerichts vorlag.
Das Gericht betonte, dass der Arzt durch sein Vorgehen seine Pflichten aus den ärztlichen Behandlungsverträgen verletzt und seinen Arbeitgeber dem Risiko von Schadensersatzforderungen der Patienten ausgesetzt habe. Der Ruf der Klinik sei gefährdet worden. Die Vorwürfe seien so schwerwiegend, dass sie die fristlose Kündigung eines langjährigen Arbeitsverhältnisses rechtfertigen würden. Den ursprünglichen Kündigungsgrund, das Fehlverhalten gegenüber einer Mitarbeiterin aus dem Jahr 2015, sah das BAG als nicht erwiesen an.
Warum konnte das Gericht die nachträglich vorgebrachten Kündigungsgründe berücksichtigen?
Kündigungsgründe können nachgeschoben werden, sofern sie bereits zum Zeitpunkt außerordentliche Kündigung vorlagen. Ein sachlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen den bei der Kündigung bekannten und den nachträglich bekannt gewordenen Kündigungsgründen ist hingegen nicht erforderlich (BAG 12.01.2021 – 2 AZN 724/20).
Es gilt jedoch zu beachten, dass Kündigungsgründe nur nachgeschoben werden können, wenn sie dem Betriebsrat, der Mitarbeitervertretung oder dem Personalrat im Zuge des Anhörungs- und Beteiligungsverfahrens vorgelegt wurden.
Stefan Schröter
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Fachanwalt für Medizinrecht